Zwischen Gott und der See by Vermeulen John

Zwischen Gott und der See by Vermeulen John

Autor:Vermeulen, John [Vermeulen, John]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257606157
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-01-12T16:00:00+00:00


[365] 20

»In einer klaren Nacht kann man mit bloßem Auge fünftausend Sterne sehen«, sagte Gerhard. Er blickte abwesend zu dem Lüftungsloch hinauf, durch das diffuses Morgenlicht hereinfiel.

»Hast du sie etwa gezählt?« fragte Ludo skeptisch.

»Ein Freund, der Sternkundler ist, hat das getan, mit einem Fernrohr, das er selbst konstruiert hat. Und die Zahl bezieht sich nur auf die Nordhalbkugel. Von der Südhalbkugel aus sieht man ganz andere Sterne, und vermutlich noch einmal genauso viele. Das macht zusammen zehntausend Sterne.«

»Eine ganze Menge.«

»Nicht wahr? Aber wenn du durch das Instrument meines Freundes schaust, siehst du plötzlich so viele funkeln und blitzen, daß dir ganz schwindlig wird. Millionen.«

»Unglaublich, alle diese Löcher im Firmament, durch die das Himmelslicht scheint.«

Gerhard schaute im Halbdunkel der Zelle in das blasse Gesicht des Studenten. »Jetzt sag bloß nicht, daß du diesen kindlichen Unsinn glaubst?«

»Das hat man uns früher in der Katechese erzählt.«

»Manche behaupten, daß jeder Stern eine Sonne sein könnte, so wie die unsrige.«

[366] »Na, das finde ich noch viel unglaublicher!«

»Das würde implizieren, daß die Erde nicht mehr ist als ein unscheinbares Stäubchen im Weltall«, sagte Gerhard sinnierend. »Und wo plaziert uns diese Hypothese? Als Menschen, meine ich?«

»Wenn ich du wäre, würde ich solche Gedanken nicht zu laut aussprechen«, warnte Ludo und blickte reflexartig zur Zellentür. »Viel Gutes hat dir diese Bescheidenheit offenbar nicht gebracht. Großmäuler regieren die Welt, Meister Mercator. Je dümmer einer ist, desto lauter ruft er, und je lauter er ruft, desto mehr Respekt haben die Menschen vor ihm. Der wahre Intellekt schweigt und wird überrollt. Wie hat man so was noch gleich im Kolleg genannt?«

»Ein Paradoxon. Das sind aber reichlich düstere Worte für einen so jungen Mann.«

»Könnte das vielleicht etwas mit diesem Verlies hier zu tun haben?«

»Weißt du, was ich eigenartig finde? Du hast mir noch nie erzählt, ob du draußen jemanden hast. Ein Mädchen, meine ich, eine Verlobte.«

Ludo schwieg einen Moment, ehe er antwortete: »Dafür bin ich zu häßlich. Wenn ich Liebe will, muß ich dafür bezahlen. Und meistens habe ich kein Geld. Mein Vater muß sich krumm arbeiten, damit ich studieren kann. Ich war die Hoffnung der Familie auf bessere Zeiten.«

»Warst?«

»Ich träumte heute nacht, ich wäre tot und stünde vor dem Himmelstor. Der Herr fragte mich, welche Worte ich gern von den Trauernden bei meinem Begräbnis hören wollte.«

[367] Wider Willen fragte Gerhard neugierig: »Und? Was hast du geantwortet?«

»Ich sagte…« – Ludo grinste – »…er lebt noch!«

Gerhard seufzte. »Das hast du dir gerade ausgedacht, stimmt’s?«

»Ich kann sehr witzig sein, wenn ich will. Die Welt wird mich vermissen.«

Mich wird die Welt nicht vermissen, dachte Gerhard. Mochte er vielleicht auch in der Lage sein, das Bild von ihr ein für allemal zu verändern. Doch er saß hier zur Untätigkeit verdammt hinter dicken Steinmauern. »Warum siegt stets die Torheit über die Vernunft?«

»Das sagte ich doch gerade. Weil die Torheit mehr Radau macht.«

»Das ist zu einfach, es muß noch eine andere Erklärung geben.«

»Wer weiß? Vielleicht ist Torheit ja die Norm der Natur. Sie kommt jedenfalls unendlich viel häufiger vor als Vernunft. Ein Zeichen an der Wand, scheint mir.«

Vielleicht hat dieser Grünschnabel sogar recht, dachte Gerhard bitter.



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